11/2006
„Der Architekt – Das zukünftige Berufsbild unter Berücksichtigung seiner Verantwortung als Baumeister“
Das ist der Titel der Doktorarbeit von Dr. Ing. Mathias Eisenmenger, die 2006 vom Fachbereich Architektur, Stadtplanung, Landschaftsplanung der Universität Kassel angenommen wurde.
Die Arbeit ist als Buch mit dem selben Titel unter ISBN 978-3-89958-252-9 erschienen. Das Buch kann über die kassel university press GmbH, Kassel, unter www.upress.uni-kassel.de bezogen werden.
Allen, die sich mit der Kybernetik im Baumanagement befassen oder befassen möchten, empfehle ich, diese Arbeit zu studieren.
Ergänzungen von mir sind in grün eingetragen.
Eisenmenger geht auf die Wurzeln der Architektur zurück und erkennt den großen ägyptischen Baumeister Imhotep (um 2.500 v. Chr.) als den ersten namentlich bekannten Architekten.
Er kommt dann zu dem römischen Architekten und Bauingenieur Vitruv (geb. 84 v.Chr.) und zu dessen berühmtem Werk zur Architektur, zur Wirkung und generalistischen Ausbildung des Architekten als Baumeister.
Heute haben sich Architekten häufig ganz auf ihre Entwurfstätigkeit zurückgezogen. Jetzt sehen sie sich angesichts einer geringen Auftragslage überrascht um und stellen fest, dass viele ihrer Leistungen nun von fachfremden Experten ausgeführt werden, die im Gegensatz zu den besagten Architekten funktionale Kriterien in das Zentrum ihrer Tätigkeit stellen:
Solange die angehenden Architekten nichts anderes wollen als zu zeichnen, werden sich ihnen keine neuen Möglichkeiten eröffnen.
... Dass aber insgesamt eine grundsätzliche Neupositionierung des Architekten hin zum ganzheitlichen Projektsteuerer nicht nur unbedingt notwendig ist, sondern dass sich auch und besonders komplexe Planungsstrukturen gerade mit den Fähigkeiten des ausdrücklich generalistisch ausgerichteten modernen „Baumeisters“ sehr wohl bewerkstelligen lassen, soll ja im folgenden im Detail deutlich gemacht werden.
Der Baumanager kann nicht als Ziel eines ganzheitlichen übergreifenden Berufsbildes angesehen werden – höchstens als Wegweiser in die richtige Richtung.
Eine Vision des Baumeister-Architekten für unsere Zeit, wie sie diese Arbeit entwickeln will, geht noch darüber hinaus und überschreitet auch die selbst gesteckten Grenzen der HOAI. Denn wenn ein Architekt sich universell bildet und generalistische Fähigkeiten besitzt, ist er damit prädestiniert, auch Projekte außerhalb des Bauwesens zu leiten und zu lenken. Dass er sich mit pauschaler Beauftragung und Bezahlung von der HOAI emanzipiert, gehört zur konkreten Umsetzung dieser Vorstellung. Insgesamt erhielte ein solcher Baumeister (auch) eine metaphorische Bedeutung im Sinne eines Gestalters beliebiger Vorhaben, der „bauen“ als „erfolgreich ausführen“ versteht. Orientiert an der Tradition erschafft sich der Baumeister-Architekt so gänzlich neu.
Das wesentliche Arbeitsfeld, in dem dieses Postulat verwirklicht werden kann, ist die Projektarbeit. Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass in der Perspektive dieser Arbeit Architekten nicht nur in ihrer besonderen Befähigung als Leiter von Bauprojekten zu sehen sind. Vielmehr soll hier ihr Potenzial zur Bewältigung von Projekten aller Art oder – noch allgemeiner gesprochen – im Umgang mit komplexen Problemstellungen überhaupt herausgestellt werden.
Mit den strukturellen Gegebenheiten von komplexen Systemen befasst sich die System-Theorie, während sich die Kybernetik (von griech. kybernetes – Steuermann) stärker mit dem dynamischen Aspekt der Systeme, ihren Prozessen, Verhaltensweisen, Ordnungen: Steuerungs- und Regelungsmechanismen ... beschäftigt.
Komplexität ist zumindest potenziell quantitativ erfassbar, indem ihr Varietätsgrad bestimmt wird.
„Varietät ist die Anzahl der unterscheidbaren Zustände eines Systems, bzw. die Anzahl der unterscheidbaren Elemente einer Menge“ (nach Malik: „Strategie des Managements komplexer Systeme“) S. 127
Wenn zum Beispiel ein System aus 5 Glühbirnen besteht und jede dieser Glühbirnen einen der beiden Zustände „an“ oder „aus“ einnehmen kann, so ergeben sich für das System 2 hoch 5 = 32 verschiedene Zustände. Damit ist dieses System noch überschaubar. Gleichwohl steigt die Varietät des Systems exponentiell sehr stark, sobald man die Zahl der Zustände erhöht. Wenn nämlich jede Glühbirne in 5 verschiedenen Farben leuchten kann, statt nur „an“ oder „aus“ zu sein, sind bereits 5 hoch 5 = 3125 Zustände für das System möglich.
„Wir hatten bis etwa 1965 fünf Gewerke im Wohnungsbau. Die Arbeitsteilung war noch kaum fortgeschritten. Den Heizungsbauer gab es nicht. Die Mieter brachten Öfen mit, wenn sie einzogen.
In den 70er Jahren planten und bauten 25 Büros und Betriebe das Haus.
Das Beispiel mit den Glühbirnen kann als Verständnisgrundlage dienen, wenn man die exponentielle Entwicklung in äußerst komplexen Systemen und ihre Bedeutung für die Einführung einer ganz neuen Planungsweise erkennen will.
Das einfache technische System in dem Beispiel besteht aus 5 Glühbirnen, die auf einem Brett untereinander montiert sind.
Jede dieser Glühbirnen hat zwei Verhaltensmöglichkeiten: sie kann entweder ein- oder ausgeschaltet sein. Die Komplexität dieses Systems ist:
2 hoch 5 = 32
Die Komplexität wächst exponentiell mit der Zahl der Elemente. Wenn wir also 25 Glühbirnen auf einer quadratischen Platte montieren, dann ist die Komplexität:
2 hoch 25 = 30 Millionen
Das charakteristische an diesem exponentiellen Wachstum ist, dass sich die Komplexität mit jedem zusätzlichen Element verdoppelt. Bei 26 Glühbirnen springt sie auf 60 Millionen.
An einer Baustelle sind bei 25 Gewerken möglicherweise 100 Menschen tätig – und jeder hat mehr als zwei Verhaltensalternativen. Er kann sich nicht nur für „ja“ oder „nein“ entscheiden.
Menschen sind nun einmal unbestimmte Wesen. Meist sagen sie so etwas wie: „ja – unter der Voraussetzung, dass der Plan da ist“ – oder „nein – es sei denn, die Witterung lässt den Estrich schneller trocknen“. Mitunter sagen sie auch „vielleicht“ oder „genau weiß ich das nicht“.
Und damit ist die Komplexität schon an der Baustelle eines Eigenheims nicht 30 Millionen oder 60 Millionen. Nein – sie liegt nahe bei unendlich und macht eben Bauabläufe – und übrigens in ähnlicher Weise jede Art von Produktions- oder Planungsabläufen – unberechenbar. ...“
Damit ist die Aussage „...Somit ist Komplexität zumindest potenziell quantitativ erfassbar, indem nämlich ihr Varietätsgrad bestimmt wird“, die Eisenmenger auf Seite 127 seines Buches macht, nicht richtig. Sie verführt dazu, mit mathematischer Methodik Planungs- und Bauabläufe zielgenau beeinflussen zu wollen, und das führt regelmäßig in die Chaosfalle.
Die Lösung liegt in der Umsetzung des Varietätsgesetzes von Ashby: Die Handlungsvarietät in einem äußerst komplexen System muss der Komplexität des Systems mindestens adäquat sein, d.h., das Führungssystem muss in einem äußerst variablen Modell unendlich viele Wege parat haben, die zum Ausgleich der ständig in den Ablauf einwirkenden überraschenden Störungen eingeführt werden müssen, um die gewollten Kosten- und Terminziele sicher zu beeinflussen.
„ ... Die Management-Kybernetik ist die Kunst, mit Hilfe unbestimmter Modelle, die latent fast unendlich viele Wege zum Ziel enthalten, und mit Hilfe eines hohen Grades von Selbststeuerung in äußerst komplexen dynamischen Systemen zielsicher zu führen.
Die Management-Kybernetik macht Planen und Führen zu einer unauflöslichen Einheit.
Der Schwerpunkt liegt beim zielgenauen Beeinflussen. ... Dabei wird ständig durch Rückkopplung vom Ziel her korrigiert.
Seit 1970 bewirken wir auf dieser wissenschaftlichen Grundlage mit dem KOPF-System regelmäßig Produktivitätssteigerungen (Bauzeitverkürzungen) um durchschnittlich ein Drittel. ...“
(aus „Hohe Produktivität in selbstorganisierten Organisationsstrukturen – Komplexitätsbeherrschung mit Management-Kybernetik“, Heinz Grote in „Entscheiden in komplexen Systemen“, Wissenschaftliche Jahrestagung der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialkybernetik vom 29. und 30. September 2000 in Mannheim, Herausgegeben von Peter Milling, Wirtschaftskybernetik und Systemanalyse, Band 20, Duncker & Humblot Berlin 2002
Die Art wie an verschiedenen Hochschulen Architektur begriffen und entsprechend gelehrt wird, kann wichtige Anhaltspunkte ergeben, wie man eine Studienreform hin zu den neuen Abschlüssen „Bachelor“ und „Master“ auch für eine Anpassung der Inhalte an das erweiterte Berufsbild des „Baumeister“-Architekten als Endziel der akademischen Ausbildung nutzen könnte. Erfreulich viele Akademien – nur Biberach und Kassel seien hier als vorbildliche Beispiele genannt – integrieren etwa ökonomische, metamethodische und projektplanerische Veranstaltungen fest in den Lehrplan.
Die Studiensysteme an einigen deutschen Universitäten, die noch Diplomabschlüsse anbieten – vor allem Darmstadt ist hier zu nennen – erscheinen zum Teil bereits zum jetzigen Zeitpunkt innovativer als diejenigen anderer Hochschulen, die zwar bereits auf die „Bachelor“- und „Master“-Abschlüsse umgestellt haben, aber darüber hinaus bisher wenig „mutig“ gewesen sind ...
Nach dem in dieser Arbeit verfolgten Ansatz sollte darauf geachtet werden, dass der Studienplan dem Ideal des generalistisch befähigten, komplex denkenden und dabei doch bündig, präzise und überzeugend präsentierenden, verhandlungssicheren und mit Vermittlungsgeschick begabten „Baumeisters“ nahe kommt. Eine positive Auswahl wären vor allem Darmstadt und Zürich.
Allerdings muss man selbst in diesen Fällen die Einschränkung machen, dass Kernkompetenzen des „Baumeisters“ – etwa die Fähigkeit zur Motivation und Leitung von Mitarbeitern ebenso wie zur erfolgreichen Führung von Verhandlungen – immer noch zu wenig gezielt gefördert werden. Außerdem wird deutlich, dass der Praxisausrichtung des noch stark entwerferisch geprägten Architekturstudiums oftmals viel zu geringes Gewicht beigemessen wird.
Verantwortungsbewusste Dienstleister mit Übersicht sind - im Gegensatz zu streng fachgebundenen Spezialisten - gefragt wie nie. Sich diesem Bedarf anzupassen, erfordert von den Architekten die Bereitschaft, neue berufliche Wege zu beschreiten.
Dafür sind in dieser Arbeit konkrete Hinweise erfolgt, indem unter anderem Forschungsergebnisse aus Kybernetik und Systemtheorie herangezogen wurden ... Architekten müssen die Erweiterung ihrer traditionellen Tätigkeitsfelder anstreben, wollen sie konkurrenzfähig bleiben – und zwar auf mehreren Ebenen.
Erstens sollte der üblichen Spezialisierung entgegengewirkt werden, indem Architekten selbst sämtliche Leistungen nach § 15 HOAI erbringen.
Zweitens können sie sich so innerhalb von bauspezifischen Aufgaben um die Erweiterung ihres Auftragsrahmens bemühen und die Gesamtverantwortung für komplette Leistungen übernehmen.
Schließlich sollten Architekten sich auf ihre generalistischen Fähigkeiten besinnen und als Projektgestalter über traditionelle Gebiete hinaus neue Aufgabenbereiche „erobern“, da alle Voraussetzungen für eine solche Erweiterung ihres Selbst- und Berufsverständnisses ... schon durch ihre spezifische Art der universitären Ausbildung geschaffen werden. Wo dieses noch nicht in ausreichendem Maße der Fall ist, können beherzte, als Chance begriffene Reformen Abhilfe schaffen. ...
Es ist durchaus möglich, durch die hier geforderte Rückbesinnung auf Bewährtes, aber darin eben zugleich Modernes, die Vermittelbarkeit der jungen Architekten auf dem Arbeitsmarkt entscheidend zu verbessern. Den Architekten ist anzuraten, ihren Schwerpunkt statt im reinen Entwurf vielmehr in der Projektgestaltung oder auch im Design, als ganzheitlicher Begriff verstanden, der praktische und ästhetische Aspekte der Planung umfasst, zu sehen. Denn damit eröffnet sich ihnen ein Sektor, der viele Möglichkeiten und vor allem Zukunft bietet.
Für den guten Projektgestalter werden sich immer mannigfache Chancen und Möglichkeiten bieten, zumal er sie sich oft selber schafft; daher ist es höchste Zeit, sich auf die Qualitäten des historischen Baumeisters zu besinnen und Berufsverständnis ebenso wie Architektenausbildung entsprechend umzugestalten.
Dem ist weitgehend zuzustimmen. Aber die Prozesse des Planens und Bauens misslingen, wenn die verhängnisvolle Fehleinschätzung, man könne sie „mit Hilfe mathematischer Wahrscheinlichkeitsberechnung, hauptsächlich mit der Kombinatorik“ (Eisenmenger Seite 127) von dem üblichen Konfliktstoff und der lästigen Zeitverschwendung befreien und sie produktiver, nervenschonender und zielgenauer organisieren und lenken.
Das ist, als wollte jemand mit der Kombinatorik ein Fußballspiel gewinnen.
In lebendigen Systemen führt die Technokratie nicht weiter. Die Kybernetik beginnt, wo die hier beschriebene Art von Mathematik nicht hinreicht.